Was erwarte ich beim Lesen der Schrift?
Ich las eben den Text des Tages in Johannes 6,60-69. Was stelle ich mir vor, wie Johannes einst diesen Text verfasst hat? Saß er da und hörte die Stimme des Heiligen Geistes, der ihm diktierte oder in die Feder fließen ließ, was er dann auf sein Pergament brachte? Oder hat sich Johannes an all sein Erleben mit Jesus erinnert und wollte festhalten, dass diese Urerfahrungen nicht verloren gehen? Ging es ihm darum, eine authentische und ewig gültige Fassung der Lebensgeschichte des Messias aufzuschreiben, damit nur ja niemand daran rütteln und zweifeln könnte?
Oder saß dieser Älteste im Kreis von Jungen, die an Jeshua glaubten und von diesem Seinem Lieblingsjünger hören wollten, wie es „damals war“? Und dann fing Johannes an und es reihte sich eine Erinnerung an die andere. Er wusste ja, dass diese Jungen die anderen Evangelien schon kannten, oder doch vieles von Jeshua und Seiner Geschichte wussten. Sie fingen ja nicht heute erst bei Null an. Und wie er so erzählt, wird ihm das Eine und das Andere lebendig, und er reiht sie aneinander, die Geschichten, Anekdoten, Einzelereignisse, die etwas von Jesu Wesen aufleuchten lassen. Und dabei spüren die Jungen, wie sein Herz zurückgeht und wieder dort weilt zu Jeshuas Füßen. Sie spüren seine Liebe und sein Feuer – war er doch nicht umsonst ein Donnersohn genannt! Auch jetzt im hohen Alter war das spürbar – nicht länger als jugendliches Ungestüm, jetzt war es vielmehr das Feuer einer innigen und tiefen Liebe, die nur darauf zulebte, wieder mit dem Einen vereint zu werden. Sie spürten die Wahrheit in dem Erzählen und gingen völlig mit, die Jungen. Und dann schrieben sie es auf. Sie hatten den Klang der Erzählung im Ohr und sahen das glühende Gesicht Johannes vor sich. Und sie schrieben es nieder, wie es in ihren Herzen wiederhallte. – Ob sie dabei schon spürten oder ahnten, dass sie nur bruchstückhaft niederlegen konnten, was Johannes so anekdotenhaft erzählt hatte?
Was erwarte ich in diesen Buchstaben und Worten und Sätzen und Geschichten? Suche ich nach einer chemischen Formel, anhand deren ich den Glauben des Johannes neu darstellen könnte, eine Gebrauchsanweisung nach dem Muster: Eins, zwei, drei – man nehme … ? Oder ist es mir gegeben, im Geist zu den Füßen des alten Johannes zu sitzen, zuzuhören und zu lauschen, um dann hinzugehen und mit Jeshua in meinem eigenen Herzen Gemeinschaft zu haben und Seine Schritte nachzustolpern, so wie es nun einmal mir gegeben wird?
Je nach meiner Erwartung werde ich auch diese Texte verstehen und das Bild vor mir sehen, wie es gewesen sein könnte. Und doch ist eben gerade dieses Bild nicht – ich möchte behaupten nirgends – überliefert. Wir lesen nur die trockenen Buchstaben und ein Bild entsteht dabei vor unserem inneren Auge. Eben, gemäß unserer Erwartung, oder nach unserer Erfahrung wachsend und sich wandelnd.
Es gibt auch Menschen, die nur Oberflächliches erwarten: na ja, die Jünger haben eben damals erzählt, was sie sich so gedacht haben und wie sie mit dem Verlust fertig werden könnten. Sie haben sich gegenseitig Mut zugesprochen und die früheren Ereignisse zurechtgedeutet, damit in allem doch noch etwas Sinn bliebe. Darum müssen wir alles nicht so arg wörtlich verstehen. Es sind eben Geschichten, wie man sie sich so erzählt. Und man lebt halt weiter, was sollte man sonst tun? – Nein, mit so geringer Erwartung kann ich mich als Basis für mein Leben nicht begnügen! Wo bleibt denn da der grundlegende Glaube an einen lebendigen Gott, der immer heute handelt. Nicht gestern und nicht erst morgen – bei Gott ist immer heute, auch wenn wir zurückschauen können auf Sein Handeln einst und Ausschau halten nach Seinem verheißenen Handeln in der Zukunft. Für Gott ist es immer jetzt und in Beziehung zu genau den Menschen, die in diesem Augenblick am Leben sind.
So war auch für Johannes beim Erzählen nichts gestern, sondern alles war gegenwärtig. Es war sein Leben mit dem auferstandenen, wenn auch verborgenen Herrn. Er erzählte keine Geschichten, sondern beschrieb, worin er lebte. Und die Jungen spürten das, sonst hätten sie es nicht so aufbewahrt und festgehalten. Solches Vergegenwärtigen war ihnen heilig und ist es bis heute. Ob dabei Ereignisse zusammengeschaut erzählt wurden, die ursprünglich Tage oder Wochen auseinanderlagen, was machts? Sie sind doch heute gegenwärtig, sind da und waren immer gemeinsam da, denn der, der sie tat, ist der Ewige!
Erwarte ich eine akurate Geschichtsschreibung? „Dies geschah am 30. April des Jahres 2016, morgens um 6 Uhr 36.“ Oder bin ich im Moment mit dem vereint, der von sich sagen konnte: „Ich bin der Anfang und das Ende – Ich bin das Leben und die Wahrheit selbst!“ Ob Jeshua nun die Toten auferweckt im Augenblick inmitten unserer Zeitgeschichte, oder am Ende der Zeit, am Jüngsten Tag – Er weckt sie auf und sie werden leben von Zeitalter zu Zeitalter. Ob er mich heilt inmitten meiner kurzen Schmerzen, oder erst am Ende, wenn Er mich zu sich rufen wird? Ich werde heil sein, das genügt.
Suche ich in der Bibel Botschaft aus einem Augenblick für einen Augenblick in dieser Zeit, oder suche ich darin den lebendigen Herrn, der alles vielleicht anders tat, als es sich meiner Vorstellung darbieten mag, doch der in Wahrheit tat und tut, wovon ich lese, jetzt und alle Tage und in Ewigkeit.
Lassen wir uns doch nicht den Zugang zu Seinem Herzen verstellen durch Erwartungen, die so begrenzt nur unserem Augenblick entsprechen würden. ER ist der Herr, der lebt und wirkt und uns, die Seinen liebt mit der selben Liebe, die Er damals zeigte zu den Menschen, von denen Johannes etwas aufleuchten ließ. Ja, ER ist Herr, mehr noch: ER ist mein Herr!
Letzte Änderung: 20. Februar 2022