Vielleicht ist es berechtigt, zu sagen, dass wir Menschen allesamt ein Stück weit zum Autismus oder zum Narzismus neigen, denn wir sind alle keine Meister im Schließen von gesunden Beziehungen. Aber Einheit und eine gewisse Harmonie ist uns trotzdem wichtig. Was also tun wir damit?
Ein wichtiger Schritt zum Frieden oder zur Einheit ist, sich auf die Gemeinsamkeiten zu konzentrieren. Damit fallen schon einmal Streitpunkte weg, die uns trennen könnten. Das ermöglicht, miteinander oder nebeneinander zu leben, ohne Krach zu haben. Aber es hält uns auch auf Abstand.
Und wir selbst werden dabei nicht in Frage gestellt. Wir können unsere Meinung festhalten, ohne neu darüber nachdenken zu müssen. Wir bleiben, wie wir sind. Ich bin ok – Du bist ok. Und das ist auch gut so, nur bringt es nicht immer weiter.
Einheit in der Vielfalt
Das klingt gut, hat jedoch einen Haken, wenn der Einzelne nicht erkennen kann oder will, dass die Vielfalt richtig ist und damit die eigene Überzeugung als kleine Teil-Wahrheit erkennbar wird.
Wie leicht geschieht es, dass ich bei allem Wunsch nach Einheit, meinen Nächsten nur eben “stehen lasse”, im Grund aber hoffe, dass auch er noch zur “vollen Erkenntnis” komme, die ich selbst schon besitze (glaube ich zumindest).
Solche Einheit in Vielfalt ist in Wahrheit ziemlich oberflächlich. In der Tiefe leben festgefügte Größen nebeneinander jede für sich. Sie verzichten nur auf äußere Kämpfe und auf missionarische Aktivität unter einander. Aber jeder hat für sich die Überzeugung vollständiger Wahrheit und Erkenntnis.
Dem stehen Gruppen oder Parteien gegenüber, die offensiv für ihre Überzeugung streiten und nach Herrschaft streben. Sei es in Politik oder Gesellschaft oder auch in der Religion.
Autistische Einheit würde versuchen den größten gemeinsamen Nenner zu finden und sich über ihm zu einigen. Bei vielen Fragen wird es diese Lösung nicht geben.
Einheit der Demut
Was aber geschähe, wenn wir auf den Kampf um Herrschaft verzichten und uns nicht mit Oberflächlichem zufrieden geben würden?
Dann würden wir unsere Positionen und Überzeugungen offen und werbend aussprechen, aber genauso offen Hinhören auf Positionen und Überzeugungen der andern. Und dabei könnte es geschehen, dass wir erkennen müssen, wie wir Schwaben gerne sagen: “Da hast Du auch wieder Recht!”
Wenn dies auf beiden Seiten geschieht, kann über beiden etwas viel Größeres aufleuchten: Die Wahrheit ist immer noch dahinter! Unser Wissen und Erkennen ist Stückwerk. Aber hinter allem sehen oder ahnen wir Gott, der alles zusammenhält.
Dann verlieren wir zwar unsere eigene, innere Sicherheit, gewinnen aber einen völlig anderen Halt in Gott selbst. Wir werden demütig und fühlen uns darin wohl.
Es sieht auch demütig aus, wenn ich den anderen einfach stehen lasse – dabei aber doch meine Überzeugung für mich festhalte. Dann ist zwar kein Streit, aber auch keine Einheit, nur deren Schein. Dies führt mich zu der provokativen Behauptung:
Echte Einheit ist erst dann gegeben, wenn ich weiß, dass der Andere genauso Recht hat wie ich und ich genauso falsch liege wie er.
Letzte Änderung: 8. Februar 2022