Ein langer Artikel in der „Jüdischen Allgemeinen“ über dies ‘wie du’ oder ‘wie dich selbstʼ, machte mich aufmerksam auf die Verschiebung, die dies Gebot erfahren hat. Der Autor (Jascha Nemtsov) macht deutlich, dass es im Zusammenhang mit dem Verzicht auf negatives Verhalten steht. Und dass es dabei ausdrücklich um ein Verhalten im Rahmen des eigenen Volkes geht! Auch wenige Verse später (19,34) kommt die selbe Formulierung in Bezug auf den Fremden in der eigenen Mitte, gefolgt von der Erinnerung daran, dass Israel selber Fremder war in Ägypten.
Lev. 19,16-18 Du sollst nicht als Verleumder umhergehen unter deinem Volk! Du sollst auch nicht auftreten wider deines Nächsten Blut! 17. Ich bin der HERR. Du sollst deinen Bruder nicht hassen in deinem Herzen; strafen sollst du deinen Nächsten, daß du nicht seinethalben Schuld tragen müssest! 18. Du sollst nicht Rache üben, noch Groll behalten gegen die Kinder deines Volkes, sondern du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst! Denn ich bin der HERR.
Lev. 19,34 Ihr sollt euch gegen den Fremdling, der sich bei euch aufhält, benehmen, als wäre er bei euch geboren, und du sollst ihn lieben wie dich selbst; denn ihr seid auch Fremdlinge in Ägypten gewesen. Ich, der HERR, bin euer Gott.
Es ist nicht leicht, die Bedeutungs- Verschiebung zu erkennen und zu deuten von diesem ursprünglichen ‘wie du’ zu unserem eingängigeren ‘wie dich selbst’. Im Hebräischen stehen da drei Worte nebeneinander: וְאָֽהַבְתָּ֥ לְרֵעֲךָ֖ כָּמ֑וֹךָ wobei dein Nächster und wie du/dich jeweils nur durch das Suffix der personellen Beziehung erkennbar ist. Es übersetzt sich viel flüssiger – zumindest im Rückblick nach 500 Jahren – lieben wie dich selbst. Doch je mehr ich es betrachte, desto deutlicher wird mir, dass diese Übersetzung eigentlich fordern müsste, dass dafür eine Verdoppelung des Präfixes ‘le’ (für den Akkusativ) nötig wäre. Ich bin nicht sicher, ob es sprachlich überhaupt angemessen ist ‘kamocha’ mit ‘wie dich selbst’ zu übersetzen’
Verständlich ist es allemal, dass ein Übersetzer zu diesem Schluss kommt, zumal die jüdische, griechische Übersetzung dieses Textes in der LXX – και αγαπησεις τον πλησιον σου ως σεαυτον – genau diese Übersetzung vorgibt!
Doch weist Jascha Nemtsov darauf hin, dass schon zu Zeiten des Hillel (* um 110 v. Chr.; † um 9 n. Chr.) das Verständnis für die Liebe auf Augenhöhe in den Hintergrund getreten war.
„Bereits in der frühen nachbiblischen Zeit wurde im jüdischen Denken das Gebot der Nächstenliebe, das nicht zum Dekalog – den wichtigsten zehn Geboten der Tora – gehörte, aus seinem Kontext herausgegriffen und als ethische Grundlage von allgemeiner Bedeutung interpretiert. Entsprechend den universalistischen Tendenzen jener Zeit wurde dieses Gebot von Gelehrten wie Hillel oder Akiva als das wichtigste Tora-Gebot überhaupt überhöht.“
Es mag also schon damals, nach Abschluss des Alten Testaments, etwas von der Klarheit der Torah in Vergessenheit geraten sein. Die lutherische Übersetzung hat ja durchaus auch ihre Berechtigung, darf aber nicht verdecken, dass es weitergehende Unterschiede gibt.
Die beiden Begriffe für Liebe ahava und chesed kommen etwa gleich häufig im AT vor (~240 mal) und betreffen auch beide sowohl zwischenmenschliche Beziehungen als auch die Beziehung zwischen Gott und uns Menschen.
Da berührt mich sehr der Hinweis darauf, dass ahava eine Liebe auf Augenhöhe bezeichnet, während bei chesed ein deutliches Gefälle vorzuliegen scheint. Und darin höre ich den Aufruf dieses Artikels: Das Gebot der Liebe ist nicht wirklich erfüllt, wenn du in Herablassung dem Andern etwas Gutes tust und dich dabei über ihn erhebst! Liebe ist erst dann vollständig, wenn sie den Nächsten vollwertig neben sich ansehen kann.
Und wie steht es dann mit ahava zwischen Gott und uns?
Dürfen wir hier an die Schöpfung erinnern, wo Gott sprach, ER wolle Menschen machen nach seinem Bild, IHM gleich?
Könnte es sein, dass diese Ähnlichkeit, Gleichartigkeit von Gott so weit gedacht ist, dass ER uns auf Augenhöhe lieben will? Könnte von daher die Freiheit verständlicher werden, die ER uns Menschen gewährt?
Dann wäre es auch ein Stück selbstverständlich, dass ich im Nächsten das Abbild Gottes erkenne und die Liebe zu ihm neben der Liebe zu Gott gleichwertig als höchstes Gebot bezeichnet wird.
Dann ist aber auch die herablassende Liebe, die dem Armen hilft und ihn zugleich verachtet, ein armes Zerrbild dessen, was uns aufgetragen ist.
Dann geht es bei der wahren Liebe um eine echte Beziehung und Gemeinsamkeit unter Gott und miteinander IHM gegenüber. Hier werden viele Einzelne zu einem Wir, zu einem Volk Gottes, dass IHM dient.
Natürlich muss dazu der Einzelne selbst Gott von ganzem Herzen und mit allen Fähigkeiten lieben, doch eingeordnet in das Wir der Gemeinschaft, die einst Gott schauen wird, ja, die als Gottes Eheweib bezeichnet werden kann. Ich stehe mitten unter meinen Schwestern und Brüdern Gott gegenüber in einer Liebe, von deren Ausmaß ich bestimmt noch kaum etwas ahne!