Da ist ein Mann, der von vielen Menschen sehr geschätzt war als Ratgeber. Sie kamen gern zu ihm, um sich mit ihm über einen nächsten Schritt zu beraten. Sie brachten ihm auch Geschenke mit, denn er stellte keine Rechnungen, sondern überließ es jedem, ob er etwas geben wollte oder nicht.
Und dieser Mann hatte eine überaus schöne Frau, die er von ganzem Herzen liebte – und sie ihn, die beiden waren eine ganz besondere Einheit, wie man es selten erlebt. Diese Frau liebte ihren Ehemann mit der ganzen Liebesfähigkeit ihres Herzens und tat ihm alles Liebe, was sie nur konnte.
Aber wenn die Menschen kamen, um Rat zu holen bei ihrem Mann, begegnete sie ihnen an der Haustüre und nahm sie in Empfang, als wären sie die einzigen Menschen auf Erden.
Sie begrüßte sie, nahm ihnen die Mäntel ab und führte sie in die Stube und fragte, ob sie gern eine Erquickung hätten. Und was sie erbaten, das richtete sie mit großer Liebe. Die Besucher freuten sich an dieser Gastfreundschaft und freuten sich auch daran, wie schön diese Frau war, und wie liebevoll sie ihnen begegnete.
Manchmal konnte es passieren, daß ihr Mann einen Augenblick verhindert war, und die Besucher sagten dann oft der Frau von ihren Anliegen. Sie war einfach so natürlich und entgegenkommend, daß es gar nicht schwer war, ihr eine persönliche Not anzuvertrauen. Und es fiel manchem Besucher auf, daß sie nie, wirklich nie von anderen Besuchern erzählte, oder gar deren Fragen und Nöte ausplauderte, sie war darin bei all ihrer Natürlichkeit so einfühlsam und zurückhaltend, daß jeder wußte, hier bin ich in guten Händen.
Es gab auch Gelegenheiten, wo sie dann zu ihrem Mann ging, um ihm schon einmal zu sagen, worum es dem einen oder anderen Gast ging, daß er sich recht darauf einstellen konnte, und oft war sie auch seine Botin, die den Besuchern eine Antwort geben konnte. Aber die Besucher wußten, daß es die Antwort ihres Mannes war. Und nie hatten sie den Eindruck, sie bekämen den Rat oder die Hilfe von der Frau allein.
Irgendwie war jeder einfach beeindruckt von der ganzen Atmosphäre in diesem Haus. Warum gingen sie denn alle so gern da hin? Der Rat war ihnen wichtig, ja sie brauchten ihn oft ganz dringend, aber es tat ihnen auch einfach gut, daß da ein Mensch war, der sie in Liebe aufnahm und sie ernst nahm. Und, wenn sie ehrlich waren, freuten sie sich auch einfach an der strahlenden Schönheit dieser Gastgeberin, aber das wurde nicht zum Grund ihres Besuchs, sie spürten, daß diese Frau ihrem Mann treu ergeben war.
Aber manche Menschen fragten sich, wenn sie sich über ihre Besuche bei jenem Mann austauschten, ob denn diese Frau nun ihnen zu Liebe all das Liebe und Fürsorgliche übte oder ob sie es ihrem Mann zu Liebe tat. Es gab Menschen, die meinten, es sei doch eigentlich nicht recht, daß diese Frau sich so intensiv den Besuchern ihres Mannes zuwandte, schließlich sei sie doch ihm vertraut, man könne ja beinahe meinen, sie interessiere sich für andere Männer. Aber nein, sagten andere, das wäre doch überhaupt nicht der Fall, sie hätten oft erlebt, wie gerade durch die wohltuende Atmosphäre bei der Begrüßung und Bewirtung, die kurze Beratung mit ihrem Mann um so klarer und intensiver gewesen sei. Aber irgendwie konnten sie sich nicht darüber einigen. So entschlossen sie sich, einige Vertreter der beiden Richtungen zu dem Mann zu schicken und ihn selber zu fragen.
Und so geschah es. Auch sie wurden von der Frau mit der gleichen Liebe empfangen, wie alle anderen. Aber, wer die Frau näher kannte, sah, daß ein ganz winzig kleiner Schatten der Trauer auf ihrem Gesicht lag. Doch er war auch gleich wieder verschwunden. Eigenartig war aber, daß sie bei diesem Besuch nicht nach dem Anliegen der Gäste fragte, und diesmal bat ihr Mann die Besucher nicht in sein eigenes Zimmer, sondern er kam heraus in die Stube, wo seine Frau die Gäste bewirtet hatte. Aber seine Frau zog sich sofort in die Küche zurück als er kam, die Gäste zu begrüßen.
Und dann trugen ihm die beiden Parteien ihr Anliegen vor, sie wüßten einfach nicht, ob das so in seinem Sinn sei, daß seine Frau, die doch ihre Liebe ausschließlich ihm versprochen hätte, seine Gäste mit solch unmittelbarer Liebe umgäbe.
Und der Mann sah sie in aller Ruhe an als prüfe er, wie sie es meinten, klopfte dann an die Küchentüre und rief seiner Frau: „Kommst Du mal, Liebste?“ Und sie kam – und als sie so neben ihm stand, sie sah zu ihm auf und er legte ganz zart und innig seinen Arm um sie und sie schmiegte sich ein ganz klein wenig an ihn an, so daß die Besucher ein heiliger Schauer überfiel.
Dann sagte er nur ganz still: „Wir beide sind so eins, ich habe keine Sorge, daß die Liebe, die meine Frau euch schenkt, mir abgehen würde. Im Gegenteil, Ihr seid doch unsere Gäste, und sie dient an meiner Statt einem jeden von euch so, wie ich es täte. Echte Liebe wird nicht beschattet, wenn sie auch andre Menschen in Ihren Lichtkreis hineinnimmt. Es ist unser beider Liebe, an der ihr hier teilhabt.“
Und wie die beiden so vor ihnen standen, wußte jeder, daß Liebe, die betätigt wird, nur wachsen kann. Sie wird nur kleiner, wo man sie verweigert.
Letzte Änderung: 12. September 2024