Kunst – Wissenschaft – Schöpfung

Manchmal berühren oder schneiden sich Erfahrungslinien im Leben, die sonst wenig miteinander zu tun haben. Jedenfalls meinen wir das oft.

Kunst

Der Eindruck der Vernissage vom 4. September zog mich noch einmal in die Backstube. Ich wollte gern der Künstlerin, Fatemeh Zahmatkesh (Sayeh), begegnen, die jene Installation „Meine Seele wo bist du?“ gestaltet hatte. Doch als ich gestern dort ankam, erlebte ich noch einmal den Schluss der Performance mit, die mich auch am 4.9. schon beeindruckt hatte.

Zwei asiatische Künstlerinnen in schwarz (Jialu Yang) und weiß (Dingjin Ma) stellten in Zeitlupentempo einen Bewegungsablauf dar, der nur einem schlichten Weg folgte, aber durch den extrem langsamen Ablauf und die Ausdrucksstärke der schwarzen „Fußgängerin“ begleitet von den Ton-Ausdrücken der Konzertflöte der weißen Flötistin, die sich fast statisch fort- und zurückbewegte, eine ungeheure Spannung erzeugte.

Auch beim zweiten, unvollständigen Erleben war der Eindruck außerordentlich stark.

Ruhe – Spannung – Erwartung …

Sinn oder Deutung? Die Frage erübrigte sich. Es geht eher um das Sein an sich, das Leben, das sich am Ende öffnet zu einem Größeren hin, das unseren Sinnen verborgen bleiben muss.

Ob man das filmen könnte? Oder ob die Fotos etwas davon einfangen und annähernd wiedergeben könnte? – Ich habe nicht fotografiert, schon gar nicht gefilmt. Ich habe zugeschaut, mit gehofft, gebangt und geglaubt – mit gelebt.1

1 Nun habe ich die Performance nochmal auf mich wirken lassen und fotografiert, aber das kann nur andeuten …

Wissenschaft

Dann stoße ich in der Nacht auf den Wissenschafts-Podcast vom NDR „Synapsen“ mit dem Neugier weckenden Titel „Rente am Rand des Sonnensystems“: „Seit 45 Jahren erkunden zwei Sonden den Weltraum und die Crew, die die Mission damals gestartet hat, begleitet sie bis heute – unter außergewöhnlichen Bedingungen“

Zwei Sonden, die die fernen Planeten zum ersten Mal aus der Nähe beobachtet haben, entfernen sich unaufhaltsam von uns und entziehen sich immer mehr dem Einfluss der Sonne. Voyager 1 und 2 sind noch aktiv, bekommen Befehle – von den selben, inzwischen alten Wissenschaftlern wie in den ersten Stunden. Sie schicken Messdaten, die über 20 Stunden unterwegs sind. Auch dies in Zeitlupe?

Ihre Reise bewegt mich schon lange, ein Aufbruch in größtmögliche Weiten. Inzwischen haben sie eine Grenze überschritten, wo der Einfluss aus dem Weltall größer ist als der von der Sonne. Trotzdem begegnen sie noch dem Sonnenwind, aber mehr jetzt dem interstellaren Wind. Der Begriff Weltall klingt auch dafür noch zu groß. Sie bleiben innerhalb unserer Galaxie, die sie nie verlassen werden.
Weltall, Kosmos ist noch eine ganze Größenordnung mehr.

Vor 30 Jahren wurde noch ein Abschiedsfoto vom Rand des Sonnensystems aufgenommen. Als „Pale Blue Dot“ berührt es uns zutiefst, denn mitten in einer helleren Linie, durch Lichtbrechung in der Kamera, ist ein winziger blass-blauer Punkt in einer schwarzen Fläche. Unsere Erde. Der Ort, an dem alles geschieht, was uns bewegt.

Kunst und Wissenschaft

Wie ein markantes Symbol sehe ich die beiden Künstlerinnen in ihrer hochkonzentrierten Zeitlupen-Bewegung und das lautlose Fliegen dieser beiden Sonden in Stetigkeit.

Die künstlerische Bewegung endet in einer völligen Öffnung, mit fragend hoffendem Blick hinaus in die Weite, aus der nichts zurückzukommen scheint, und die doch da ist, unausweichlich.

Wie kurz ist der Weg der beiden beiden
– vom Anfang der Performance bis zur Öffnung
– von der Erde bis über den Rand des Sonnensystems hinaus.

So fängt die Kunst – unbewusst? – den Weg ein, den wir Menschen zu gehen suchen. Und den wir doch nicht wirklich gehen oder fliegen könnten. Nur schauend und messend sind wir unterwegs und erkennen oder ahnen unsere Begrenzung.

Winzig klein, auf einem Staubkorn neben der Sonne, die selbst nur ein Punkt am schwarzen Himmel ist, für die beiden Sonden nur noch wie ein anderer Stern in dunkler Nacht.

„Meine Seele wo bist du?“

Ich gehe wieder in die Backstube, zusammen mit der Künstlerin, die die Installation gestaltet hat. Und hier begegne ich dem selben Phänomen der Bewegung – nun allerdings als Standbild einer Momentaufnahme.

Da liegt die Ermordete, jenseits von Hoffnungslosigkeit – ihr Weg ist beendet. Nur wie ein Abschiedsgruß breitet der bunte Vogel der ungelesenen Botschaften seine Flügel über ihren Rücken. Zwei volle Wochen habe sie gelitten unter dem schrecklichen Geschehen, sagte die Künstlerin, ehe sie fähig und inspiriert wurde, diese Botschaft zu nähen, zu kleben.

„Meine Seele wo bist du?“ war die letzte Botschaft vom Vater der jungen Frau, die dem Anschlag zum Opfer gefallen war. Und so schwebt oben drüber, fast durchsichtig, ihre Seele nach oben, bedeckt von einem Hoffnungs-grünen Tuch. Wo schwebt sie hin? Entschwindet sie uns, wie die Sonden am Rand unseres Sonnensystems?

Oder sieht sie die andere Welt, jenseits der Grenze, wie die Performance-Künstlerin mit weit geöffneten Augen?

Nicht verloren inmitten der Schöpfung

Drei völlig verschiedene Bilder zeigen mir meine Begrenzung, wie unscheinbar und unwesentlich ist mein Sein. Und doch so greifbar und wirklich! Auch wenn mein Leben nur wie ein Hauch verfliegt, ist es doch in der Hand dessen, der es schuf. „Man kann sich vorstellen: Wir können nicht die Einzigen sein in diesem Weltraum“ rief die Sprecherin im Podcast mit Freude im Klang der Stimme angesichts der Erzählung vom Pale Blue Dot.

Ob das nun andere intelligente Wesen auf fernen Planeten sein mögen, ja ob wir davon träumen, einmal von der Erde „auszuwandern“, wenn es hier zu gefährlich wird … – Dies nicht allein Sein bezieht sich doch auf eine noch höhere Dimension und ich erkenne an dieser Grenze ganz neu das Wunder des Geschaffenen. Ich bin nicht einfach nur „geworden“. Ich werde auch nicht einfach entschwinden und vergehen, weil da etwas, oder jemand ist, der mich wollte und nie aufhörte, mich zu wollen, und mich immer noch will, bis ich heimkehre mit offenen staunenden Augen und ausgebreiteten Armen.

Dann wird auch das Leiden, der zu Boden geworfenen Schöpfung aufgehoben sein in ewiger Realität. Und all die Tränen über das irdische Leid werden abgewischt in der Gegenwart dessen, der selbst das Leben ist.

Letzte Änderung: 8. Oktober 2022